Themen: Leid, Gericht, Recht, Gott, Urteil
Die Gerichtsverhandlung
Eine Geschichte von A-T. I. Armstrong
Am Ende der Zeit versammelten sich Milliarden von Menschen auf einer riesigen Ebene vor dem Thron Gottes. Viele von ihnen schauten ängstlich in das helle Licht, das ihnen entgegenstrahlte. Aber es gab auch einige Gruppen von Menschen, die sich hitzig miteinander unterhielten. Die Umgebung schien sie nicht zu beeindrucken.
"Wie kann Gott über uns zu Gericht sitzen? Was versteht er schon von unseren Leiden?", fauchte eine junge Brünette. Sie zog einen Ärmel hoch und zeigte eine eintätowierte Nummer aus einem Konzentrationslager.
Aufgeregt öffnete ein farbiger junger Mann seinen Hemdkragen. "Schaut euch das an!" forderte er seine Nachbarn auf. Am Hals sah man das hässliche Mal eines Stricks. "Gelyncht wurde ich nur darum, weil ich schwarz bin. In Sklavenschiffen hat man uns ertickt. Von unseren Liebsten wurden wir getrennt. Wie die Tiere mussten wir arbeiten – bis der Tod uns die Freiheit schenktel."
Ein junges Mädchen starrte trotzig vor sich hin. Auf ihrer Stirn stand das Wort "Unehelich". "Dies Brandmal zu tragen", murmelte sie, "ging über, über ...", und ihre Stimme ging im Gemurmel der Anderen unter.
Überall auf der Ebene wurden jetzt ärgerliche Stimmen laut. Jeder richtete Klagen gegen Gott, weil er das Böse und das Leiden zugelassen hatte. Wie gut hatte es Gott doch, im Himmel, in all der Schönheit und Helligkeit zu wohnen. Dort gab es keine Tränen, keinen Hunger und keinen Hass. Ja, konnte sich Gott überhaupt vorstellen, was der Mensch auf der Erde erdulden musste? Schließlich führte er selbst doch ein recht behütetes Dasein, fanden sein.
Es bildeten sich Gruppen, und jede wählte einen Sprecher. Immer war es derjenige, der am meisten gelitten hatte. Da war ein Jude, ein Schwarzer, ein Unberührbarer aus Indien, eine Uneheliche, ein entstellter Leprakranker, ein Opfer aus Hiroshima und jemand aus einem Arbeitslager in Sibirien. Sie diskutierten aufgeregt miteinander. Schließlich waren sie sich in der Formulierung einig. Der Sachverhalt war ganz einfach. Bevor Gott das Recht hatte, sie zu richten, sollte er das ertragen, was sie ertragen mussten. Ihr Urteil: Gott sollte dazu verurteilt werden, auf der Erde zu leben – als Mensch!
Aber da Gott ja Gott war, hatten sie
bestimmte Bedingungen aufgestellt. Er sollte keine Möglichkeit haben, aufgrund
seiner göttlichen Natur sich selbst zu helfen. Und dazu hatten sie sich
Folgendes ausgedacht:
Er sollte als Jude geboren werden. Die Legimität seiner Geburt sollte
zweifelhaft sein. Niemand sollte wissen, wer eigentlich der Vater war. Er
sollte versuchen, den Menschen zu erklären, wer Gott sei. Er sollte von engsten
Freunden verraten werden, von einem voreingenommenen Gericht verhört und von
einem feigen Richter verurteilt werden.
Schließlich sollte er selbst erfahren, was es heißt, völlig allein und verlassen von allen Menschen zu sein. Er sollte gequält werden und dann sterben. Und das sollte in aller Öffentlichkeit geschehen und zwar so schrecklich, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er wirklich gestorben war. Dazu sollte es eine riesige Menge von Zeugen geben, die das bestätigen.
Während jeder Sprecher einen Teil des Urteils verkündete, erhob sich ein Raunen in der riesigen Menschenmenge. Als der letzte Sprecher den Urteilsspruch abgeschlossen hatte, folgte langes Schweigen.
Und alle die Gott verurteilt hatten, gingen
plötzlich leise fort. Niemand wagte mehr zu sprechen. Keiner bewegte sich. Denn
plötzlich wusste es jeder:
Gott hatte die Strafe schon auf sich genommen.